Leben mit einem besonderen Kind

15.08.2018
Kolumne

Der Namensbeitrag ist am 15. August 2018 in der Fuldaer Zeitung erschienen.
 

Michael Brand fordert eine Debatte über vorgeburtliche Bluttests. Der Autor (44) ist direkt gewählter Bundestagsabgeordneter im Wahlkreis Fulda.

Derzeit findet im Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) ein Bewertungsverfahren über genetische Bluttests bei Schwangeren statt, mit denen zu einem frühen Zeitpunkt der Schwangerschaft abgeklärt werden kann, ob eine Trisomie beim Fötus vorliegt. Dieses höchste Organ der Selbstverwaltung von Ärzten und Krankenkassen wird demnächst entscheiden, ob diese Bluttests in den Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung aufgenommen, das heißt von der Krankenkasse als Regelleistung finanziert werden sollen.

Laut ihrem Vorsitzenden Professor Hecken ist „damit zu rechnen dass schon in absehbarer Zeit weitere molekulargenetische Testverfahren zur Verfügung stehen“. Eindringlich weist er darauf hin, dass damit fundamentale ethische Grundfragen unserer Werteordnung berührt sind.

Fraktionsübergreifend haben wir uns im Bundestag zu einer Gruppe zusammengefunden, die eine Debatte herbeiführen will - zunächst ohne konkrete Anträge oder Gesetzentwürfe - um die Sachlage, Chancen und Risiken sowie die weitreichenden ethischen und gesellschaftlichen Folgen zu diskutieren.

Im Kern geht es um die Frage: Wenn der Erbgut-Test im Mutterleib zur Routine wird – was folgt daraus? Gerade in einer Gesellschaft, die allzu oft Selbstoptimierung und Leistungssteigerung zur Richtschnur erhoben hat.

Trisomie 21, also Down-Syndrom, ist keine Krankheit, die sich heilen ließe, sondern eine genetische Veranlagung. Die Ausprägung der Beeinträchtigungen ist unterschiedlich. Für Eltern ist die Diagnose fast immer ein Schock, mit Ängsten und Ungewissheit, für manche Familien eine Zerreißprobe.

Mehr als 90 Prozent der Eltern in Deutschland entscheiden sich schon heute gegen das Kind, wenn die pränatale Diagnostik Down-Syndrom sagt. In Belgien sind es über 95 Prozent, seit dem neuen Bluttest Tendenz weiter steigend.

Jeder wünscht sich ein gesundes Kind. Aber was, wenn es nicht so ist? Was bedeutet es, wenn Eltern dann auf dem Spielplatz gefragt werden, ob sie das mit der Behinderung nicht vor der Geburt gewusst haben? Was passiert mit einer Gesellschaft, in der künftig systematisch das Down-Syndrom und vieles mehr ins Visier genommen wird? Gibt es nicht auch ein Recht auf Nichtwissen, zumal Diagnosen auch fehlerhaft sein können?

Gerührt haben mich die Zeilen einer Mutter, deren Tochter mit Trisomie 18 zur Welt kam, mit einer prognostizierten Lebenserwartung von Stunden, vielleicht Tagen – sie wurde 13 Jahre alt. Ihre Tochter habe auf ihrem Weg alle geprägt, die sie kennenlernten – mit ihrer „ansteckenden Lebensfreude, überbordenden Liebe und Dankbarkeit“. „Und sie gab uns Sicherheit. Sicherheit nicht mehr ängstlich auf die Diagnose oder auf Defizite zu starren, sondern wahrzunehmen, welch wunderbarer Mensch uns da geschenkt ist“, schrieb sie.

Familien, die sich für das Kind entscheiden, brauchen weder Mitleid, schon gar keinen Rechtfertigungsdruck; Offenheit und konkrete Unterstützung aber ganz sicher. Diese Familien wollen wir in den Mittelpunkt unserer Debatte stellen. Es gibt viele offene Fragen:

Ausweitung von vorgeburtlichen Bluttests - wie weit wollen wir gehen? Wie können Vorurteile abgebaut und echte Teilhabe ermöglicht werden? Wie kann gesellschaftlicher Druck auf Schwangere verhindert werden? Wie kann fundierte Beratung bei Untersuchungen verbessert werden?

So wird zum Beispiel in Aufklärungsbögen vor pränatalen Untersuchungen mit dem Ziel, Trisomien zu erkennen, ein Leben mit Down-Syndrom in der Regel als etwas zu Vermeidendes dargestellt. Sie enthalten in der Regel keine Informationen darüber, wie das Leben mit Down-Syndrom tatsächlich aussieht, wo man Unterstützung bekommen kann.

Vor allem muss die Perspektive von Menschen mit Behinderung stärker berücksichtigt werden. Gerade sie haben ein besonders sensibles Gespür: „Ich finde total doof, dass ich eigentlich nicht leben soll!“, sagte mir einmal der 43-Jährige Stefan mit Down-Syndrom entrüstet und traurig zugleich - um mich dann ganz fröhlich anzustrahlen.