
Michael Brand bilanziert das Jugoslawien-Tribunal und fordert mehr internationale Justiz. Der Autor (43) ist direkt gewählter Bundestagsabgeordneter im Wahlkreis Fulda.
Mit dem Ende des Jahres hat der Internationale Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien (ICTY) seine Arbeit beendet. 50 Jahre nach den Nürnberger Prozessen hat es internationales Recht gestärkt und zugleich die Frage nach der Aufarbeitung der jüngsten Balkan-Kriege aufgeworfen sowie die der künftigen Entwicklung der internationalen Justiz.
161 Angeklagte, fast 11.000 Prozesstage, 90 Verurteilungen wegen Genozid, Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder Kriegsverbrechen, sechs Mal die Höchststrafe: Lebenslang.
Die Rückkehr von Konzentrationslagern auf europäischem Boden, die fast vierjährige Belagerung der Hauptstadt Sarajevo, der Genozid von Srebrenica und nicht zuletzt das Versagen der Staatengemeinschaft, die vier Aggressionskriege des serbischen Präsidenten Milosevic mitten in Europa – von Slowenien, Kroatien, über Bosnien bis zum Kosovo – zu stoppen, führten 1993 zur Errichtung des ICTY.
Zunächst hatte man nur die „kleinen Fische am Haken“, musste die Anklage gar um Telefonanschlüsse, Personal und Mittel kämpfen, ganz besonders mit dem Unwillen der betroffenen Staaten überhaupt mit dem Gericht zusammenzuarbeiten. Später kamen auch „große Fische ins Netz“: Präsidenten, Minister, Generale, Polizeichefs, die als Kriegsverbrecher überführt wurden. Ohne die EU wären Karadzic und Mladic noch heute frei. Konditionalitätspolitik kann also Erfolge bringen.
Die Ausrede der Täter, man habe nur seine Pflicht getan, das eigene Volk verteidigt oder von allem nichts gewusst, wurde in tausenden Stunden Ermittlungsarbeit akribisch widerlegt, Tathergänge rekonstruiert und durch öffentlich zugängliche Prozessakten unwiderruflich festgehalten.
Zum ersten Mal wurde im internationalen Strafrecht sexuelle Gewalt als Verbrechen gegen die Menschlichkeit anerkannt. Neu ist auch das Prinzip der Vorgesetztenverantwortlichkeit: Ein Vorgesetzter kann für die Straftaten eines Untergeben verantwortlich gemacht werden. Dass Zeugen bedroht, sogar ermordet wurden sowie absurde Freisprüche von Angeklagten, gehört leider auch zur Bilanz des Tribunals in Den Haag.
Für die Überlebenden ist – das weiß ich aus meiner Arbeit in den neunziger Jahren in Bosnien mit den Opfern – von zentraler Bedeutung, dass sie angehört wurden, die Wahrheit ans Licht kommt, die Täter bestraft werden. „Ich habe solche Angst, dass Mladic heute Nacht stirbt“, sagte mir am Vorabend der Urteilsverkündung in Den Haag eine Mutter aus Srebrenica, deren drei Söhne und ihr Mann von Mladics Truppen ermordet wurden. Sie fürchtete, es werde wie bei Milosevic, der in Haft starb, nicht zum Richterspruch kommen.
Ewiggestrig sind diejenigen, die immer noch oder wieder Kriegsverbrecher als Helden feiern. Dass nach dem feigen Suizid des bosnisch-kroatischen Ex-Generals Praljak im Gerichtssaal sogar die Präsidentin Kroatiens, der Regierungschef, auch das Parlament eines EU-Mitgliedslands noch 2017 um einen Kriminellen trauern und sich empört über das UN-Tribunal zeigen, spricht Bände – Feige ist auch das Schweigen dazu in Brüssel und Berlin. Das gilt auch für manche Relativierung des Präsidenten des EU-Beitrittskandidaten Serbien. Ohne Wahrheit und echte Aufarbeitung wird es weder Gerechtigkeit noch Frieden geben – darf es auch keinen Weg in die EU geben.
Beim Beitrittsprozess muss die EU endlich konsequent auf die Einhaltung der Bedingungen pochen. Ziel ist die Europäisierung des Balkans, nicht die Balkanisierung Europas. Wer das weiterhin ignoriert, legt die Axt an eigene Fundamente. Interesse am Gelingen müssen wir haben, weil es auch um unsere Sicherheitsinteressen geht.
Vor 24 Jahren haben Opfer im ehemaligen Jugoslawien Gerechtigkeit gefordert. Heute gibt es wieder Millionen Opfer, die sich das wünschen. Der neu seit 2002 existierende permanente Internationale Strafgerichtshof mit 123 Vertragsstaaten – ohne Russland, USA, China, Türkei, Syrien oder Saudi-Arabien – ist leider weitgehend ein zahnloser Tiger: Die Vereinten Nationen oder gleichgesinnte Partner müssen wieder handeln. Wenn wir das nicht tun, wird internationale Justiz wieder zurückgedrängt, was für alle mehr Unsicherheit bringt.
Empfehlen Sie uns!