Aktuelle Stunde zu Aleppo und Syrien

01.12.2016

Der Deutsche Bundestag hat sich heute in einer "Aktuellen Stunde" mit den dramatischen Ereignissen in Aleppo und Syrien beschäftigt.

Hier die Rede von Michael Brand:

"Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir sind in der Adventszeit. Sie alle kennen das Lied „Kling, Glöckchen, klingelingeling". In der ersten Strophe heißt es: Lasst mich ein, ihr Kinder, ist so kalt der Winter, öffnet mir die Türen, lasst mich nicht erfrieren.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, auch in Syrien steht der Winter bevor. Die Lage wird sich dort noch weiter verschlechtern. Die Medikamente gehen aus, ebenso die Lebensmittel. Ich möchte zwei Punkte aus der Debatte aufgreifen.

Es ist von der „großen Lösung" gesprochen worden. Ja, natürlich, jeder wünscht sich die große, die schnelle Lösung, aber wenn die große Lösung nicht möglich ist, dann muss ich mich um Alternativen kümmern; denn ansonsten ist in Syrien keiner mehr da, alle sind weggebombt. Deswegen muss sich die Weltgemeinschaft natürlich die Frage nach Airdrops, die Frage nach Korridoren, die Frage nach einer Schutzzone stellen, und zwar bei all den Risiken, die das haben kann; wir haben es in Bosnien erlebt.

(Beifall des Abg. Roderich Kiesewetter [CDU/CSU])

Wir müssen in Alternativen denken und den Mut haben, über diese konkreten Fragen zu diskutieren und zu entscheiden. Wir müssen eine Antwort auf die Frage finden, ob wir dazu bereit sind.

Ich möchte einen zweiten Punkt aufgreifen. Die humanitäre Hilfe ist angesprochen worden. In der Tat: Der Deutsche Bundestag hat in der vergangenen Woche mit der Verabschiedung des Bundeshaushaltes eine wichtige Entscheidung gefällt und die Mittel für Hilfe für die Krisenregionen verdreifacht. Das ist notwendig, auch aus eigenem
Interesse. Aber die Wahrheit ist, dass die humanitäre Hilfe oftmals genau dort nicht ankommt, wo sie am dringendsten gebraucht wird. Deswegen sind die Fragen, die ich eben aufgeworfen habe, Fragen, denen wir uns jetzt stellen müssen, sonst wird in Syrien niemand mehr sein, wenn vielleicht mal die große Lösung kommt.

Ich möchte heute etwas Ungewöhnliches tun und meine Stimme Ahmad al-Jussuf geben. Ich muss ehrlich sagen: Es fällt mir schwer, noch Worte zu finden angesichts des Infernos in Aleppo und in Syrien. Ahmad al-Jussuf war gestern zu Gast im Deutschen Bundestag. Mit Abgeordneten aus allen Fraktionen haben wir vor wenigen Wochen erst die Parlamentariergruppe „Alternativer Nobelpreis" gegründet. Es war gestern Abend eine Premiere hier im Hohen Haus, dass die Preisträger, wenige Tage nach der Auszeichnung in Schweden, nach Berlin gekommen sind, um wachzurütteln. Es waren Preisträger dabei wie die älteste und unabhängige Tageszeitung Cumhuriyet, die ägyptische Frauenrechtlerin Mozn Hassan, die 74-jährige russische Menschenrechtsaktivistin Swetlana Gannuschkina und eben der „Syrische Zivilschutz", die sogenannten „Weißhelme".

Diese Gruppe von Freiwilligen hat über 70 000 Menschen aus den Trümmern in Syrien gerettet. Sie gehen dorthin, wo die Bomben fallen. Sie buddeln Verschüttete aus, löschen Brände, versorgen Verletzte. Im Internet finden Sie Aufnahmen davon, wie sie kleine Kinder und Babys aus den Trümmern befreien.

Unser Freund aus Syrien hat uns gestern Folgendes gesagt:

Mein Name ist Ahmad al-Jussuf. Ich bin aus Syrien, repräsentiere hier den syrischen Zivilschutz, die sogenannten Weißhelme, die einzige Organisation in Syrien zur Rettung von Zivilisten, die Opfer des täglichen Bombardements werden. Bei uns arbeiten etwa 3 000 Freiwillige in 120 Stützpunkten in acht syrischen Provinzen, die sich dafür entschieden haben, ihr Leben einzusetzen für die Rettung von Menschenleben an einem der gefährlichsten Orte der Welt, wo die Moral der Welt angesichts der Barbarei verschwunden ist und angesichts des organisierten Verbrechens, das dem syrischen Volk, aber auch der ganzen Menschheit angetan wird.

Ganz ehrlich gesagt, ich bin ratlos und stehe hilflos vor Ihnen und hilflos vor meinen Angehörigen in Syrien, insbesondere in der östlichen Region von Ghuta bei Damaskus und in Aleppo. Aleppo, wo die Welt heute zusieht, wie Menschen abgeschlachte werden, und wo die Welt zusieht, wie ganze Städte zerstört werden.

Ehrlich gesagt, ich habe gezögert, bevor ich mich entschied, hierherzukommen. Ich erinnere mich an meine Kameraden, meine 150 Kameraden vom Zivilschutz, die bei ihrer Arbeit, bei ihrem Versuch, Menschenleben zu retten, selbst ums Leben kamen. Ich habe mit vielen von ihnen gesprochen, und ich habe sie zurückgelassen. Sie blicken dort dem Tod ins Auge, und ich weiß nicht, mit welcher Botschaft ich zu ihnen zurückkommen soll.

Wir schätzen es sehr, dass Sie uns diesen Preis verliehen haben. Wir bedanken uns für alle Preise; denn sie sind eine Botschaft der Solidarität, die uns Hoffnung gibt. Wir bedanken uns auch für die Krankenwagen und die Feuerwehrfahrzeuge, die Sie uns schicken und die uns dabei helfen, Zivilisten zu retten, bevor sie von syrischen und russischen Flugzeugen bombardiert werden. Gleichzeitig ist es mir aber auch peinlich, solche Preise entgegenzunehmen, während unsere Angehörigen in Syrien Tag für Tag getötet werden.

In diesem Moment, während ich zu Ihnen spreche, werden Zivilisten in Aleppo, in Ost-Aleppo, obdachlos gemacht. Sie fliehen aus der Katastrophe. Sie laufen durch Trümmer und suchen nach einem Schutz. Währenddessen verbluten Verwundete angesichts der Ohnmacht der Ärzte, die ihnen keine Medikamente mehr und keine Behandlung mehr zuteilwerden lassen können, nachdem syrische und russische Flugzeuge alle Krankenhäuser und Kliniken zerstört haben.

Stellen Sie sich einmal vor, welch dramatische Situation das ist. Was in Syrien passiert, ist ein unbeschreiblicher und unglaublicher Schrecken, und das Unvermögen der Welt, Schritte zu unternehmen, um all das zu beenden und um das Töten zu beenden, ist ebenso unglaublich! Was sich daraus entwickeln wird, aus Tragödien, Schmerz und Hass, ist ebenso unglaublich.

Wir tragen die Botschaft des Lebens an unser Volk und an die Welt. Wo sind unsere Partner? Wer wird sich bereiterklären, uns angesichts dieses Todes in Syrien beizustehen und uns auf dem Weg des Lebens zu begleiten? Stehen Sie zu uns, meine Damen und Herren! Stehen Sie uns bei! Stehen Sie der Menschlichkeit bei!

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten
der SPD und des BÜNDNISSES 90/
DIE GRÜNEN)