Ohne Not

12.11.2016

Die Kolumne "BRAND AKTUELL" ist am 12./13.11.2016 in der Wochenzeitung FULDA AKTUELL erschienen.

Von der Öffentlichkeit fast unbemerkt hat der Bundestag in dieser Woche eine deutliche Abkehr von seiner bisherigen Position in einer ethischen Frage vollzogen. Gruppennützige Forschung an nicht-einwilligungsfähigen Menschen, so heißt das im Parlamentsdeutsch, wird künftig zugelassen. Damit werden die Hürden für Arzneimittel-Tests an Demenzkranken deutlich abgesenkt.

Natürlich wünscht sich jeder, der selbst oder in der Familie betroffen ist, sehnlichst weitern medizinischen Fortschritt. Wir alle wollen mehr Wissen über Ursachen, Prävention, vor allem Therapie.

Bislang darf an Patienten, die eingewilligt haben, aber nur geforscht werden, wenn sie vorab über das konkrete Vorhaben, Ziele, Nebenwirkungen, Risiken vollumfänglich aufgeklärt wurden. Und jeder hat das Recht, jederzeit ohne Begründung die Teilnahme zu beenden. Die neue Rechtslage wird das kaum mehr gewährleisten können. Eine Blankounterschrift birgt gerade für die Schwächsten unabschätzbare Risiken.

Mit einer Mehrheit von 330 von 581 Stimmen hat der Bundestag ohne Not unseren hohen Schutzstandard preisgegeben. Das neue Arzneimittelgesetz geht auf einen Initiative der EU zurück. Mit Lockerungen soll der europäische Markt für die Pharmaindustrie wieder attraktiver gemacht werden.

Mich überzeugt das nicht, im Gegenteil: Bei Demenz-Erkrankten handelt es sich um besonders schutzbedürftige Menschen, ihr Schutz muss in jeder Phase gewährleistet sein. Dass ausgerechnet die sensiblen Stimmen der Alzheimer Gesellschaft, der Lebenshilfe oder der Kirchen ignoriert wurden, ist ein schweres Versäumnis.

Das Bundestags-Votum zeigt wie schnell Dinge ins Rutschen kommen. Noch 2013 hatte das Parlament einstimmig und fraktionsübergreifend die Beibehaltung unseres Schutzniveaus beschlossen. Einer Verzweckung des Menschen darf man nicht die Tür öffnen.